Gedichte-Auswahl / Rainer Stolz
Die Kleine schläft, ich gähne
den See an. Im Schnee
schieb ich ihren Wagen und frag mich
wieder mal, wer hier wen bewegt.
Der Weg ist schmal und eindeutig
zu malerisch für heute, dem Tag
nach der Zeitumstellung. Ich habe
Pläne gemacht, was ich noch alles
sein lassen kann. Eine Greisin
kommt auf uns zu, im Rollstuhl
und sagt: „Jetzt aber, zack zack!“
erschienen
in: lauter niemand, Ausgabe 6, Berlin 2005
Alles war gesagt – dein Körper aber
folgte nicht, er wandte sich
langsam zurück, im Treppenhaus
die Intervallschaltung
sprang um. Glück
scheint ein Kipppunkt zu sein
ein Dreh des Körpers, während
das Licht ausgeht. Heut Nacht
wurde ich wach
von Stimmen, im Treppenhaus:
ein Mann, eine Frau – dann
ging draußen das Licht an.
„Hau ab! Hau endlich ab!“
erschienen u.a. in: Anton G. Leitner, Philipp Appenzeller (Hrsg.): lass uns herzen!
24 Stunden Poesie, Norderstedt 2005
Und die Stammkunden saßen schon
am Tresen, sie leuchteten nicht
im Schwarzlicht, nur das sperma-
artige Muster auf deinem Hemd
Paisley genannt. Man trank
den Cola-Pernod mit Strohhalm
und sog am Eis. Zum Greifen
nah war das Mysterium. Der Tanz
im Schuhkarton ging vor, zurück, vor
dem Sänger, der immer grad
jung gestorben war: Verbeugung
der Mädchen mit Asche im Gesicht
und der Jungs mit dem wunderbar
auftoupierten Haar. Nur einer war
uncool weiß gekleidet: der Inhaber.
erschienen
in: Jürgen Engler (Hrsg.): small talk im holozän, neue deutsche literatur, Berlin
2005
1. er
weiß noch nichts von seinem G.;
er hat mehr G. als V.;
im U. hat er noch G.;
das G., es lächelt ihm;
ein zartes G., stilles G.;
muss man ihn zwingen zu seinem G.?;
2. G.
auf!;
verschließe nicht die Augen
vor deinem kleinen G.;
das G. ist blind, du nicht;
steh deinem G. nicht im W.!;
komm, versuch es auf gut G.;
3.a)
oje!,
er tritt sein G. mit Füßen;
G. und Glas, wie leicht
bricht das; na ja!, dein G.,
dass du nichts merkst;
3.b) das
wahre G.
ist eh ein kurzes G.
erschienen
in: Sterz Nr. 97/98, Thema: Glück, Graz 2005
Blauglockenbäume hat sie, die Stadt,
Amberbäume in alten Parks, Sumpf-
zypressen, zu groß, um sie zu fassen,
hat sie auch, die Stadt, sie hat
Scheinakazien, die Blüten rosafarben,
nah am Münster gar die echten, sie
hat im Bergwald viele Merktafeln:
am Schwarzdorn, am Weißdorn,
am Kreuzdorn, am See
steht diese Hängebuche, worin du,
wärst du hier, verschwändest.
erschienen
in: ndl 8/04, Berlin 2004
„Entschuldigung –
du Arschloch!“
So endet die Fahrt,
das Pendeln
zwischen
Sommergrippe und Erinnerung
an das Diktum des
Arztes
mehr Schokolade zu
essen.
Über die
Abgangstreppe tret ich
in die Mühle der
Abwechslung:
„Polizei Berlin.
Beruf mit Zukunft.“
Ein neuer Türsteher
am Supermarkt.
Ein LKW, der
schluchzt.
Woran ich denk bei
„Nagelstudio“.
Auf einem
Wartehäuschen baden
zwei Tauben. Ich
mag sie
die Aussicht vom
Nollendorfplatz
auf mein Elternhaus
das gestrichen wird
in meinen
Lieblingsfarben
(rot-orange und
gelb-orange).
An der Kreuzung ein
Paar
auf einer Bank,
Japaner –
wie sie sich
seelenruhig
gegenseitig
entlausen.
erschienen
in: Kritische Ausgabe 2/04, Bonn 2004
(Auswahl)
Auf
der Distel sitzt
ein
Vogel: eine Blüte
die
herüberschaut.
*
Am
Feinkost-Laden
zerfressene
Buchstaben.
Bettelndes
Tschilpen.
*
Von
wegen Schlafplatz!
Am
Lustgarten schwätzen sie
bis
tief in die Nacht.
*
Ein
helles Köpfchen
singt
ein Liebeslied, das zieht
weil
es einfach klingt.
*
Manchmal
scheißen sie
auf
die vielen Menschen die
gern
auf sie schimpfen.
erschienen
in: Krautgarten Nr. 45, St.Vith (B) 2004
ein
Nachruf
Manchmal sitz ich im
Elvis-Bistro
und bin k.o. –
im Radio: gute Laune.
Die Stadt eine Einstellung
die gehalten wird. Irgendwo
hinter einer großen Klappe
warten Charakterdarsteller.
Doch hier steht ein Mann
hinter dem Tresen, der
Brötchen
mit einem Lächeln belegt und
sagt:
„Es gibt noch Regen“.
erschienen u.a. in: orte Nr. 134, Zelg-Wolfhalden (CH) 2004
die erst Pflaumen, dann Kirschen aß
war sie plötzlich da –
sie sagte, sie hasse Obst.
Ich sagte: "Ich geh nie danach
ob ich die richtigen Schuhe anhab".
Wir spielten Billard, touchierten uns.
Ihre Schnallenschuhe waren spitz
punktierten mein Spielbein.
Bis ich sie an die Bande stieß.
Ich sagte: "Ich will Ziel sein".
Sie sagte: "Versenkt!"
erschienen
in: Signum 1/04, Dresden 2004
sprich zwei somit ein Paar sogar
folglich sattsam zwar doch Streit
es schlechterdings keilt halt
ansonsten Regen
wiewohl nass zutiefst zu zweit
dessen ungeachtet Schirm dabei
quasi allenfalls Vorhandensein
nichtsdestotrotz Regen
ob mitnichten diese beiden zwei
merklich je desto lieber Streit
tunlichst nicht allein zumal
nachgerade Regen
respektive eben alle beide hier
mir nichts dir nichts sich ohnehin
freilich schlussendlich unbedingt
zumindest Regen
erschienen
in: Björn Kuhligk, Jan Wagner (Hrsg.): Lyrik von JETZT, 74 Stimmen, Köln 2003
sei kon struk tiv kon tak tier lieb
kon ti nenz wie du musst
kon sum dich ran
kon text ihn zu der kon ver
siert
kon ter ka rier sein hemd
kon ster nier nie
kon troll dich froh kon tur nur so
kon so li dierst du
kon ser viers dir
kon fron tier kon fli gier geh
kon form mit kon fut se
kon ti im nu um
erschienen
in: ndl 2/03, Berlin 2003
Mehr kauen soll ich, sagt mein Zahnarzt
weniger schlucken. Unter der Zunge
horte ich Worte. Plötzlich
fällt eins heraus wie "Trennungsgrund".
Am Kontoauszugsautomaten treff ich
mein Unbewusstes, und wir gehen
auseinander. Vorm Museum
stinkts nach Frühling. Zweige
greifen mir in die Beine.
Im Friseursalon
sitz ich Zügen gegenüber
die warten auf irgendwas.
Das Vergnügen
Paare zu sehen.
erschienen u.a. in: Macondo, Edition 8, Thema: Warten, Bochum 2003
da hat jemand wohl was angefangen
hat jemand wohl eine Tür hat wohl
jemand was aufgemacht sich einge-
klinkt in was das was bringen soll
da war wohl jemand froh hat
jemand wohl gut gemeint
hat da wohl einen Schlüssel
für ein Luftschloss nein
angefangen hat da jemand was
hat Scharniere im Sinn gehabt
hat sich da wohl irgendwas
als Beispiel geschnappt
hat der Markt sich gedacht
und jemand wohl nicht
zu Ende programmiert
Ziffern wohl nicht
sprechen lassen mit dem
der im Sinn gehabt hat
da hat jemand die Tür wohl nicht zu
und kein Anruf sich von selber
auch Suchmaschinen haben da
war wohl der Griff zur Klinke
hat wohl keiner mehr Danke
hat wohl kein Kaufakt mehr
ein Ich gemacht war wohl
kein Beispiel mehr für was da
kam wohl kein klarer Kopf
aus der Schlinge hat wohl
jemand die Klinke
erschienen
in: Theo Breuer (Hrsg.): NordWestSüdOst, Gedichte von Zeitgenossen, Sistig/Eifel
2003
für Claudia
Ein Bauarbeiter mit
Gesichtsmaske
lacht die Züge aus, die
einfahren
lacht so laut, dass wir
glauben
er meint uns mit den langen
Armen.
Und du weinst im ETAP-Hotel.
Ein Sommergoldhähnchen
verschmäht unser Popkorn.
Am Ufer stehn wir geflutet
vom Scheinwerferlicht
der Besichtigungsschiffe
gähnen vor Eindrücken
in alle Welt
(seht ihr uns
dann gebt Bescheid).
Eine Straße heißt
uns den Mittag zu suchen.
Ein Kellner sagt: „Bis
morgen“
ich verstehe: „Deutsche“.
Saint-Germain-des-Prés
ist ein Parfum.
Auf den Künstlergräbern:
kandierte Fahrkarten.
Ich sehe Trompetenbäume
in asphaltierten Parks
und du den Geschäftsmann
der auf einer Bank schnarcht.
Ich gehe hinter dir
der Aussicht wegen.
erschienen
u.a. in: Stephan Gürtler, Rainer Stolz (Hrsg.): Feuer, bitte! Berliner
Gedichte über die Liebe, Berlin 2003
Als ich wieder mal auf
Kuchen war
in einem dieser
Museumscafés
fragte ich mich, ob die
Kunst noch Unsinn hat.
So wie einer neulich
linkshändig
Geld hinten rechts in
die Tasche tat.
Oder zwei sich bye-bye
sagten
indem sie sich die
Zungen rausstreckten.
Ich sah ewig auf eine
stehengebliebene Uhr
und fragte mich: was
macht die Muse
wenn Grosz bei Beate
rumhängt.
Als ich dann in die
Stadt fiel
passte mich ein Plakat
ab:
"Everyone is an original!"
Ich stahl einem
Autoradio ein Lied
und spürte die
Sehnsucht der Lautstarter.
Die Melancholie der
Fensterhocker
rührte mich im
Vorbeigehn.
Tief in mir
rebellierten Randgruppen.
Selbstgesprächler waren
massenweise unterwegs.
Ich sah
Jugendstilscheiben zerschlagen.
Ich sah eine Alte am
Stock
Golf spielen mit Kot.
Ich sah Gummis aus
Fenstern fliegen.
Ich sah eine Frau, die
schob eine Kinderkarre
worin ein Mädchen eine
Kinderkarre schob.
Ich sah Männer rechte
Haken tauschen
und dass sie sich zu
Treffern gratulierten.
Ich sah Wachleute, wie
sie Unwesen trieben.
Ich sah einen eine
Karte essen.
Ich sah die
Waldbereitschaft zunehmen.
Ich sah Autos Fußgänger
überqueren.
Ich sah zuckende Münder
und Augen.
Schultern zuckten immer
zuletzt.
Mir kamen Türen
entgegen.
Da sah ich die Kunst:
ein Turm aus Schrott.
Drumherum lungerten
Warengruppen.
Ich sah wie Kontrakte
sich schlossen.
Ich ging gespenstisch
um in vertrauten Ketten.
Wieder trat die Utopie
hart ein.
Happyendverbraucher sah
ich
und ging rasch zum
Bäcker.
erschienen
u.a. in: manuskripte 155, Graz 2002
So abgrundschief
Mich agiert ein Tierfreund
Ich schaue zu und fühl mich
Wie ein Muss das muss
So ergonomisch
Aromatisch
Lagerbeständig
Fettresistent
Wie ein gestärktes Hemd
Ich fühle mich heute so vegetativ
So überlassen dem Dativ
So universell partikular
So wortwörtlich unsagbar
So post so sehr
Natal und so
Genial fixiert
So schlüsselqualifiziert
Konzentriert wie Sirup
Im Gefrierschrank
Dicht stramm blue
Puddinghaft
Und so püriert passiert versiebt
So rar so gar
Fastkochend
Freischaffend
Total latent
Fettresistent
erschienen
in: Wohnzimmer 27a, Wien 2003
[alle
Gedichte: © Rainer Stolz]
zum
Seitenanfang